Juli, August 2021
Nach 20 Jahren Militäreinsatz am Hindukusch entschieden die USA, sich bis im Sommer 2021 aus Afghanistan zurückzuziehen. Das Szenario, dass die Taliban wieder versuchen werden, die Macht zu übernehmen, ist bekannt gewesen. Vielleicht nicht sofort nach Abzug der Truppen aber ziemlich sicher in einer absehbaren Zeit danach. Im August 2021 haben sich schliesslich die Ereignisse überschlagen.
Aarian* begrüsst mich mit einem herzlichen Lachen am Flughafen in Kabul. Meine Nervosität, die sich während dem Flug kontinuierlich zugenommen, nimmt spürbar ab. Ich fühle mich vom ersten Moment an in diesem unbekannten Land herzlich willkommen. Nicht als Reisender, sondern eher als ein Freund. Gemeinsam gehen wir zu unserem Auto und treffen auf Bari*, meinen zweiten Guide und unserem Fahrer. Bari ist ruhiger als Aarian. Er ist sehr freundlich, aber auf seine eigene Art auch in sich gekehrt. Ich spüre von Anfang an eine verborgene Traurigkeit in ihm. Erst im Verlauf der Reise werde ich verstehen warum. Von der langen Fluganreise bin ich sehr müde und möchte nur noch schlafen. Während der Autofahrt vom Flughafen in die Green Zone, zu meiner Sicherheitsunterkunft, bekomme ich von Kabul nicht mehr viel mit.
Dort angekommen, falle schon am frühen Abend ins Bett, in einen tiefen Schlaf.
Mit einem gewaltigen Knall, der förmlich aus dem Nichts gekommen ist reisst es mich halb aus dem Bett. Ich realisiere nicht, was geschehen ist und taste nach dem Lichtschalter, kann ihn aber nicht finden. Da sehe ich einen Lichtstreifen unter der Tür. Meine Hausnachbarn kommen alle aus ihren Zimmern. Wir treffen uns auf dem Gang, möchten miteinander sprechen, verstehen uns aufgrund der unterschiedlichen Sprache nicht. Ich gehe wieder zurück in mein Zimmer und lausche den Geräuschen der Nacht. Von aussen ertönen Rufe. Ich verstehe nichts. Was passiert gerade? Die Rufe werden lauter und nun höre ich jedes Wort, immer deutlicher. «Allahu akbar, Taliban. Allahu akbar, Taliban!» Es hallt auf den Strassen von Kabul. Scheinbar demonstrieren junge Menschen gegen die Machtübernahme der Taliban. Ich schreibe Aarian, der mit Bari in einer anderen Unterkunft wohnt und frage ihn, was gerade geschehen ist. Gespannt blicke ich auf mein Smartphone und lese die Antwort: «Ein Bombenanschlag».
Am nächsten Morgen gehe ich in den Garten der Anlage um auf Aarian zu warten. Da hallen Schüsse durch die Strassen von Kabul. Minutenlang wird gefeuert. Schnelle Salven, immer abwechselnd. Nach ungefähr 15 Minuten wird es wieder ruhiger. Vereinzelte Schüsse fallen noch. Danach kehrt Ruhe ein. Ich nehme wieder die Geräusche der Umgebung wahr, das Fahren der Autos, die Unterhaltungen der Menschen, fast als wäre überhaupt nichts passiert.
Ich treffe auf Aarian. Wir sprechen über die Explosion der Nacht. Über die Schüsse, die ich eben gehört habe. Innerhalb eines Tages erlebe ich , wie gefährlich das Leben in Afghanistan sein kann.
Die Taliban warten den Truppenabzug nun nicht mehr ab. Die Machtübernahme geschieht in diesen Tagen, im August 2021.
Zusammen mit meinen Guides besprechen wir täglich die Lage. Als Fotograf möchte ich ein authentisches Bild von Afghanistan und seinen Menschen vermitteln. Mit meiner Kamera probiere ich, das Land in all seinen Facetten zu zeigen.
Wir reden während unserer gemeinsamen Reise viel über das Leben in Afghanistan, das Schöne, das Traurige und das Schreckliche, das die Menschen seit Jahrzehnten erleiden müssen. Baris Bruder wurde während dem ersten Krieg gegen die Taliban von einer Panzergranate getroffen und in Stücke gerissen. Diar*, ein weiterer Guide, den ich kennenlernte, erlebte in Mazar e Sharif ein Massaker als es zwischen verschiedenen Gruppierungen und den Taliban zu heftigen Kämpfen gekommen ist. Er erinnert sich noch gut daran, als er nach heftigen Feuergefechten das Haus verlassen hat und über Leichen, die überall auf der Strasse lagen, steigen musste.
Auch ich passiere Leichen, inmitten von Kabul. Es sind Drogenabhängige, die einfach tot am Strassenrand liegen und niemand sich um deren letzte Ruhe kümmern möchte.
Schönes hingegen finde ich überall. Menschen, die mich lächelnd begrüssen, Menschen, die an mir Interesse haben, sich mit mir unterhalten möchten, die mich zum Abendessen in ihr Haus, zu ihrer Familie einladen möchten. Ich rieche neue Düfte auf den Märkten, esse feines Eis, ja afghanisches Eis, sehe farbenfroh gekleidete Menschen, Frauen in Kabul mit einem leicht gebundenen Kopftuch, Burka tragende Frauen auf dem Land. Die voll verschleierten Frauen mögen aus westlicher Sicht abstrakt wirken und ohne Zweifel kann das Leben einer Frau in Afghanistan unbeschreiblich schwer sein. Nach und nach erfahre ich jedoch auch eine weitere Sichtweise, dass manche Frauen den Schutz, den eine Burka vermittelt, schätzen.
Was für ein Land. So anders, so unbegreiflich. So schwer zu verstehen. Und so wunderschön.
Ich stehe vor der Blauen Moschee in Mazar-e Sharif. Es ist später Nachmittag und die tief stehende Sonne lässt das architektonisch beeindruckende Wahrzeichen der Stadt, eine der bedeutendsten Wallfahrtsstätten in Afghanistan, in verschiedenen Blautönen märchenhaft erleuchten. Soeben ist das Gebet zu Ende gegangen und zumindest für einen Augenblick scheinen die Ereignisse im Land ein Stück in die Ferne gerückt zu sein. Familien sitzen zusammen auf dem Boden vor der Moschee, geniessen die wärmenden Sonnenstrahlen und unterhalten sich, während die Kinder spielend umherlaufen.
Auch wenn heute der Islam die fast einzige Religion im Land ist, zählten Teile Afghanistans vor der Islamisierung zum Zentrum des Buddhismus. In der Stadt Charikar, gelegen in der Provinz Parwan, besichtige ich eine renovierte buddhistische Stupa. In Sanskrit, eine der wichtigsten Sprachen im Hinduismus und eine der ältesten Sprachen der Welt, bedeutet Stupa ungefähr Hügel. Das 33 Meter hohe Bauwerk blickt auf eine 1'850 Jahre alte Geschichte zurück und zeigt eindrücklich die kulturelle Vielfalt Afghanistans.
Ich stelle mir vor, wie schön es wäre, durch ein friedliches Afghanistan reisen zu können. Während einer Autofahrt von Kabul nach Jalalabad, nahe der Grenze zu Pakistan, teile ich meine Gedanken meinen beiden Guides Aarian und Bari mit. Sie fangen beide liebevoll zu lächeln an und teilen mir mit, dass sie sich gerade in ihrer Muttersprache, Dari, genau darüber unterhalten haben. Sie träumen davon, zusammen mit ihren Familien eines Tages mit dem Auto quer durch ihr geliebtes Land fahren zu können. Ganz ohne Angst. So wie es ihnen gefällt, wohin sie möchten.
Inzwischen sind die Taliban nicht mehr weit von Kabul entfernt und es wird Zeit, dass ich das Land wieder verlasse. Der Abschied von Aarian und Bari fällt mir nicht leicht, da ich das Gefühl habe, sie in einer gefährlichen, ungewissen Zukunft zurückzulassen. Im Flugzeug von Kabul nach Istanbul denke ich an die Ereignisse meiner Reise zurück. An die schönen und an die traurigen Momente. Und an den Traum meiner afghanischen Begleiter. Ein Traum, von dem niemand weiss, ob er sich eines Tages erfüllen wird.
*Die Namen wurden geändert.
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